Puhoi (Neuseeland)

Geschichtlicher Hintergrund

Die Vorfahren der deutschböhmischen Siedler Neuseelands haben ihre Herkunftsregion, die Gegend zwischen den westböhmischen Städten Mies/Stribro, Pilsen/Plzen und Staab/Stod, in den 1860er und 1870er Jahren verlassen. Die Auswanderung aus dem Egerland nach Neuseeland geht zurück auf Martin Krippner, einem Offizier der österreichischen Armee, der 1817 in Mantau/Mantov (etwa 20 Kilometer südwestlich von Pilsen/Plzeň) geboren wurde. Die Aussicht auf eigenes Land brachte Krippner dazu, nach Neuseeland auszuwandern. Er verließ den österreichischen Militärdienst und kam mit 14 weiteren Siedlern aus seiner böhmischen Heimat im März 1860 in Neuseeland an. Die Gruppe ließ sich auf der Nordinsel, etwa 40 Kilometer nördlich von Auckland nieder. Die Bedingungen in dem ihnen zugewiesenen Landstrich erwiesen sich nach Auskunft der befragen Nachfahren der Auswanderer als extrem hart. Um die dort vorherrschende Wildnis urbar zu machen, überzeugte Krippner eine größere Gruppe aus dem Egerland, ebenfalls nach Neuseeland auszusiedeln.

Wegkreuz in Puhoi
Wegkreuz in Puhoi

Etwa 100 Auswanderer nahmen die Strapazen einer über dreimonatigen Fahrt nach Neuseeland auf sich. Die Immigranten erhielten von der Regierung ein etwa 830 Hektar großes Gebiet an einem Fluss nördlich von Auckland, der in der Sprache der Maoris Puhoi genannt wird. Diese Bezeichnung wurde von den Neuankömmlingen für ihre Siedlung übernommen. Die anfänglichen Lebensbedingungen auf der zugewiesenen Fläche waren für die Siedler extrem. In Puhoi wird noch heute erzählt, dass ohne die Hilfe benachbarter Maori-Stämme die Siedlung wieder aufgegeben worden wäre. Weitere deutschböhmische Siedler kamen in den Jahren 1866, 1872, 1875 und 1876 nach Puhoi. Insgesamt ließen sich in den Jahren von 1860 bis 1876 über 200 böhmische Auswanderer in Puhoi nieder. Unter den Siedlern befanden sich vor allem Landwirte, Dorfbewohner ohne eigenen Grundbesitz und Handwerker. In den Jahrzehnten nach der Gründung gelang es den Deutschböhmen alle Täler um Puhoi in Weideland zu verwandeln.

Ab 1866 erhielten einige Siedler aus Puhoi Grundstücke in Ohaupo, etwa 200 Kilometer südlich von Puhoi. Diese sekundäre Siedlung und das 1876 von Ohaupo aus gegründete Te Rore liegen in der Nähe der Stadt Hamilton. In diesen beiden Ortschaften leben heute noch Nachfahren der deutschböhmischen Siedler, allerdings konnten bei einem Forschungsaufenthalt im Februar und März 2008 in Ohaupo und Te Rore keine Sprecher mehr angetroffen werden. Nach mündlicher Auskunft der Ortschronistin Christine Krippner (Te Rore) sind die letzten Sprecher des Deutschböhmischen in der Gegend von Ohaupo und Te Rore Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts verstorben.

Gegenwärtige sprachliche Situation

Tonbeispiel zur Besiedelungsgeschichte von Puhoi
Ein deutschböhmischer Sprecher aus Puhoi erzählt in seiner deutschen Varietät die Besiedelung von Puhoi, wie sie sich um 1860 zutrug.
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Während des Aufenthaltes in Puhoi konnten noch 5 Sprecherinnen und Sprecher des Deutschböhmischen angetroffen werden, wobei der jüngste Sprecher zum Aufnahmezeitpunkt 80 Jahre alt war und der älteste 95 Jahre. Nach Auskunft einer Informantin leben noch drei weitere kompetente Sprecher in der Nähe von Helensville an der Westküste. Aufgrund des hohen Alters aller Gewährspersonen und den nur mehr passiv vorhandenen Kenntnissen dieser deutschen Varietät bei deren Kindern ist davon auszugehen, dass das Deutschböhmische in Neuseeland in nicht allzu ferner Zukunft aussterben wird. Erneut ein Beleg dafür, dass bi- oder multilinguale Regionen häufig bei Unterschreiten einer kritischen Sprecherzahl zugunsten einer Monolingualität aufgegeben werden, vor allem, wenn die Domäne der Erstsprache auf den engeren Familienkreis eingeschränkt wird und zudem im Schulsystem die Mehrheitssprache (hier Englisch) die einzig verwendete Form darstellt.  Der deutschböhmische Dialekt von Puhoi verschwand nach Auskunft der Informanten bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Schule, das Sprechen des Deutschen war sogar unter Androhung körperlicher Gewalt verboten.

Ihre Mundart bezeichnen die Deutschböhmen in Neuseeland als „Egerländisch“. Auch im Ursprungsgebiet südlich von Mies/Stribro und Pilsen/Plzeň ist diese Bezeichnung üblich, obwohl sich das historische Egerland („regio egire“) weiter nördlich befindet. Es umfasste einst das Egertal bis Karlsbad (Karlovy Vary), den Kaiserwald (Cískařský les) und das Tepler Hochland (Tepelská plošina). Hier kann man eine Parallele zu den Begriffen „Böhmerwald“ und „Böhmerwaldmundart“ ziehen, da sich diese ebenfalls durch ihre starke identifizierende Kraft bis über Südböhmen verbreitet haben. Wie im Ursprungsgebiet südlich von Mies/Stribro und Pilsen/Plzen verbindet der Dialekt Merkmale aus dem Nordbairischen und dem Ostfränkischen, wobei weiterhin das Nordbairische in der Varietät das dominante Element darstellt. Darüber hinaus kommt es aber im deutschböhmischen Dialekt von Puhoi zu einer Vielzahl an kontaktlinguistischen Erscheinungen.

Bohemian Museum Puhoi
Bohemian Museum Puhoi

In den Familien der deutschböhmischen Siedlerinnen und Siedler wurde zunächst ausschließlich Dialekt gesprochen. Auffällig ist, dass sich zum Teil Unterschiede der einzelnen Herkunftsorte in Tschechien in den „Familiendialekten“ bis heute erhalten haben. Diese Tatsache ist den Sprechern stets bewusst und wurde bei der Befragung von den Gewährspersonen oft thematisiert. Als Beispiel kann hier die unterschiedliche Lautung von maring und marng (morgen) angeführt werden. Die erste Form enthält einen Sprossvokal (eingeschobenes -i-), die zweite nicht. Die Schulen waren von Beginn an englischsprachig. Gerade die vorwiegend im deutschböhmischen Dialekt sozialisierten Kinder der ältesten noch lebenden Sprechergeneration hatten deshalb zunächst mit Schwierigkeiten zu kämpfen. So berichtete eine Sprecherin von einem Missverständnis in ihren ersten Schultagen, das auch ein gutes Beispiel für die nordbairische Diphthongierung darstellt: Auf den tadelnden Hinweis des Lehrers „Look at your dirty face“ wanderte ihr Blick nach unten zu den Füßen (nordbairisch feiß).

Einen negativen Einschnitt für die Dialekttradierung stellten die beiden Weltkriege dar, in dieser Zeit vermehrte sich der gesellschaftliche Druck, die deutschen Siedlungsmundarten aufzugeben. Während manche Eltern der Gewährspersonen sich bemühten, ihre Nachkommen in Englisch zu erziehen, wurde der deutschböhmische Dialekt teilweise als Geheimsprache genutzt, so z.B. zwischen Geschwistern, um sich über Dinge auszutauschen, die nicht für Zuhörer bestimmt waren. Es steht außer Frage, dass der nordbairische Dialekt von Puhoi in den nächsten Jahren aussterben wird. Im Großraum Auckland leben heute noch acht aktive Sprecher, die alle bereits über 75 Jahre alt sind. Die Nachkommen dieser Sprecher verfügen, wenn überhaupt, lediglich über eine passive Dialektkompetenz.

Es bleibt anzumerken, dass der Dialekt in der Kindheit und Jugend der interviewten Personen äußerst unterschiedliche Rollen spielte. So wurde beispielsweise in einer befragten Familie ausschließlich die Mundart gesprochen, die englische Sprache erlernten die Geschwister erst in der Schule. Sehr aufschlussreich für die Forschung ist die Aussage eines Sprechers. Er verweist darauf, dass seine deutschböhmische Erstsprache bis heute im englischen Sprachgebrauch seinen Niederschlag findet: „People think, I`m an Australian“. In einer anderen Familie wurde der Dialekt nur dann gesprochen, wenn die Eltern etwas vor ihren Kindern verheimlichen wollten, der Dialekt wurde nicht willentlich und wissentlich an die nachfolgende Generation weitergegeben. Letztendlich siegte allerdings die kindliche Neugier und die Geheimhaltungsversuche der Eltern waren für den Sohn Anreiz, den Dialekt autodidaktisch und durch die Mithilfe befreundeter Kinder und Familien zu erlernen.

Bemerkenswert ist, dass die Varietät überhaupt so lange bestehen blieb. Stützende Faktoren hierfür sind sicherlich die extreme soziale und ökonomische Isolation. Aufgrund des geschlossenen Siedlungsgebietes und eigener Kirchengemeinde bildeten die Siedler in Puhoi eine eigenständige Gemeinschaft. Es existieren verschiedene Organisationen, die sich um den Erhalt der Sprache und Kultur bemühen. Eine davon ist die „Sudetendeutsche Landesmannschaft“. Diese veröffentlicht in regelmäßigen Abständen eine kleine Zeitschrift, die sich Gmoi  Bladl nennt und über Geschichte sowie stattfindende Festlichkeiten berichtet. In Neuseeland werden diese Aktivitäten von Christine Krippner (Te Rore) unterstützt. Sie gibt die Zeitschrift Huambladl (Heimatblatt) heraus, die über lokale Ereignisse berichtet.

Sprachliche Merkmale der deutschböhmischen Varietät

Die folgenden Ausführungen zu den verschiedenen linguistischen Teilbereichen geben nur einen sehr kleinen Ausschnitt des gesamten sprachlichen Spektrums wieder. Mehrere Publikationen zu einzelnen Bereichen der deutschböhmischen Varietät sind in Vorbereitung.

Phonetik: Vokale

 

Im Bereich der Vokale sind nordbairische Diphthongierungen durchgehend zu beobachten:

  • ou für mittelhochdeutsch (im Foldenden abgekürzt mhd.) uo; z.B. goud (gut), brouda (Bruder)
  • ei für mhd. ie, üe, z.B. fleing (fliegen), ghei (Kühe), meid (müde)
  • åu für mhd. ā; z. B. šlåufn (schlafen)
  • åu für mhd lang ō; z. B. åuvał (Ohr)

Auffällig in der Siedlermundart ist die Diphthongierung von gedehnten mhd. o in Beispielen wie uafm (Ofen) oder vuagl (Vogel).

Phonetik: Konsonanten

 

Auf kurze Vokale folgt meist ein Leniskonsonant wie beispielsweise in brug (Brücke), ebenso nach kurzen Diphtongen, z.B. in loidα (Leiter). Ein wahrscheinlich ostfränkischer Einfluss ist der Schwund von s in unna (unser). Auch der Ersatz von g für j ist als charakteristisches Dialektmerkmal zu werten: Die neuseeländischen Informanten verwenden diese Besonderheit in di gunga (die Jungen) oder gåu-a (Jahre).  Diese g-Formen sind noch relikthaft verbreitet in einem Gebiet beginnend südlich von Regensburg über den östlichen ostfränkischen Sprachraum bis nach Westböhmen.

Einfluss des Englischen

 

Das retroflexe r erscheint in unterschiedlichen Ausprägungen, je nach Dialektkompetenz und Sprachpraxis der Gewährsperson. Es ist davon auszugehen, dass dies einen signifikanten Einfluss des Englischen darstellt.

Morphologie

 

Auffällig ist der Plural der Diminutivformen: bigsla (kleine Büchsen), bredla (Bretter); diese Form der Diminuierung wird auch auf englische Lexeme übertragen: bogsla (kleine Box). Komparationsformen werden häufig durch Zuhilfenahme des Adjektivs tüchtig gebildet: dichdi šmol (sehr schmal), dichti goud (sehr gut). Wie im nordbairischen Raum üblich, lautet das Partizip Präteritum von sein gwesd. Die ursprüngliche Dativendung -en (im Plural) ist in der neuseeländischen Sprachinsel, im Gegensatz zu den meisten binnenbairischen Varietäten, noch präsent, wie folgendes Beispiel zeigt: midn ghei-an (mit den Kühen).

Syntax

 

Wie nachfolgendes Beispiel zeigt, ist die Modal- und Auxiliarverbstellung deckungsgleich mit derjenigen im Ursprungsgebiet. Es gilt die Serialisierung Auxiliar-Modalverb-Vollverb: Sie haben wollen verkaufen. Zudem fehlt in der deutschböhmischen Varietät von Puhoi häufig die Ausbildung einer Verbklammer bei mehrgliedrigen Prädikaten. Das Untersuchungsgebiet geht dabei konform sowohl mit dem Ursprungsgebiet wie auch mit allen bisher von uns untersuchten deutschböhmischen Siedlungen in Brasilien, Rumänien, in der Ukraine und den USA. Ein Einfluss der umgebenden Mehrheitssprachen, die alle nicht das Merkmal der Verbklammerbildung aufweisen, kann nicht ausgeschlossen werden. Denkbar ist aber auch eine konservative Bewahrung alter Serialisierungsmuster des Deutschen.

Lexik

 

Die Siedlermundart weist einige bairische Kennwörter auf, was ebenfalls für eine Zuordnung zur nordbairischen Dialektgruppe spricht. Als Beispiele seien angeführt: diats (ihr = Anredepronomen in der 2. Person Plural), enk (euch), ertag (Dienstag). Eindeutigen englischen Einfluss zeigt die Bezeichnung grikl als Diminuierung von engl. creek (Bach). Diese Hybridbildung verbindet ein englisches Lexem mit dem bairischen Wortbildungssuffix -(a)l. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass das Lexem vollkommen in das System des nordbairischen Dialekts integriert ist, das zeigt sich durch die Realisierung mit Leniskonsonanz am Wortanfang und eben durch das bereits angesprochene Diminutivsuffix. Ähnliches lässt sich auch für das Lexem boksl (kleine Schachtel) konstatieren, das eine Ableitung von englisch box darstellt.

 

Weitere exemplarische Übernahmen aus dem Englischen sind bitschn (Pfirsiche) von peaches, fence (Zaun), ropm (ausrauben, engl. to rob), die Lehnbildung zehn Monate zruck (ten months ago) und hybride Bildungen wie Christmaszeit für Weihnachtszeit oder Schulholidays für Schulferien. Zu diskutieren wäre, ob draim (fahren) ebenfalls einen englischen Einfluss darstellt (vgl. to drive). Da dieses Phänomen auch in den bairischen Dialekten der Westukraine erscheint, kann auch von einer eigenständigen Entwicklung ausgegangen werden.

 

Darüber hinaus werden englische Begriffe für jene Gegenstände verwendet, die zur Zeit der Einwanderung noch nicht bekannt bzw. existent waren und sich somit noch kein deutscher Begriff etablieren konnte, z. B. washing machine, television oder sink (Waschbecken in der Küche). Beim Lexem telefonieren ist hingegen kein englischer Einfluss zu beobachten. Hier verwenden die Gewährspersonen den wohl aus dem Ursprungsgebiet mitgebrachten Begriff telegrafieren.

Einfluss der Maori-Sprache

 

Die deutschböhmischen Siedlerinnen und Siedler waren nach ihrer Ankunft mit einer ihnen unbekannten Vegetation konfrontiert, sodass sich gerade in der ersten Zeit große Versorgungsprobleme einstellten. Es waren die örtlichen Maori, die die Neuankömmlinge unterstützten und den ernsten Mangel an Nahrung milderten. Vor den Maori-Kriegen war die Beziehung gerade zum Ngati Whatua Stamm so gut, dass es auch zu Eheschließungen zwischen den Mitgliedern beider Gruppen kam. Die Mutter einer Gewährsperson aus Puhoi stammt aus einer solchen Verbindung.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass einige Wörter der Maori-Sprache Eingang in den deutschböhmischen Dialekt gefunden haben. Als Beispiel ist hier die Bezeichnung gumara für Kumara (eine Süßkartoffelart) angeführt. Diese Frucht wurde bei der ersten Welle der polynesischen Besiedlung eingeführt.